Das erste Tor des Abends fiel, als noch nicht einmal alle Fans auf ihren Plätzen angekommen waren: Kevin De Bruyne traf schon nach 93 Sekunden per Flugkopfball zum 1:0 für Manchester City gegen Real Madrid. Nach elf Spielminuten erhöhte Gabriel Jesus auf 2:0. Real war überfordert, überrumpelt, und alles deutete in dieser Phase darauf hin, dass City schon im Hinspiel des Champions-League-Halbfinals den Einzug ins Endspiel klarmachen würde.
Doch nach einer guten halben Stunde erzielte Karim Benzema praktisch aus dem Nichts den Anschlusstreffer für Real, obwohl City zu dem Zeitpunkt schon mit vier Toren hätte führen können. In der zweiten Halbzeit entwickelte sich dann ein faszinierender Schlagabtausch. City gewann am Ende 4:3 – die BBC bezeichnete die Partie als den neuen „Goldstandard“ des Fußballs.
Guardiola mahnt
City-Trainer Pep Guardiola versuchte in der Pressekonferenz nach dem Spiel, die Bedeutung der vielen vergebenen Torchancen seiner Mannschaft herunterzuspielen – auch wenn er in der 26. Spielminute fast explodiert wäre, als Riyad Mahrez den Ball ins Außennetz drosch, statt zum frei stehenden Phil Foden querzulegen.
„Auch wenn das Ergebnis 2:0 oder 3:0 wäre, müssten wir ins Bernabéu gehen und gut spielen“, sagte er mit Blick auf das Rückspiel in Madrid nächste Woche. Angesichts der ungewohnten defensiven Schwächen seines Teams warnte er jedoch: „Wenn wir so spielen wie in der zweiten Halbzeit, werden wir nicht gewinnen.“
Guardiola hat mit City in England sämtliche nationalen Titel gewonnen; diese Saison können sie zum vierten Mal in fünf Jahren Meister werden, wenn sie sich den FC Liverpool bis zum Schluss vom Hals halten. Aber an der Champions League, die der Klubeigentümer Scheich Mansour mehr als alles andere begehrt, beißen sie sich bislang die Zähne aus.
Vergangene Saison drangen sie zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte bis ins Finale vor, verloren es jedoch gegen den FC Chelsea. Guardiola gewann die Champions League mit dem FC Barcelona zweimal, allerdings sind diese bislang größten Triumphe seiner Trainerlaufbahn mittlerweile elf beziehungsweise dreizehn Jahre her.
Zu viele Chancen ausgelassen
Und obwohl sie am Dienstag als Sieger vom Platz gegangen sind, muss es sich für City beinahe so anfühlen wie eine Niederlage. „Ich will meine Spieler davon überzeugen, dass wir das Spiel gewonnen haben“, sagte Guardiola, so als hätten sie verloren: „Kopf hoch!“ Denn sie waren über weite Strecken die mit großem Abstand bessere Mannschaft, erspielten sich etliche Torchancen, ließen aber zu viele davon ungenutzt.
Und trotz ihrer Überlegenheit gehen sie nur mit einem hauchzarten Vorsprung ins Rückspiel. Der Ertrag steht in keinem gesunden Verhältnis zum Aufwand. Zumal für Real ein Tor Rückstand vor dem Rückspiel kein Grund zum Fürchten ist.
Im Achtelfinale verloren sie das Hinspiel bei Paris Saint-Germain 0:1, gewannen zu Hause dafür aber 3:1. Im Viertelfinale besiegten sie Chelsea im Hinspiel 3:1 und standen im Rückspiel dennoch kurz vor dem Aus, bevor sie sich in die Verlängerung retteten, wo Benzema den spielentscheidenden Treffer erzielte. Reals Trainer Carlo Ancelotti wirkte nach dem Abpfiff am Dienstag dementsprechend entspannter als Guardiola. Dem Sender BT Sport sagte er: „Diese Spieler sind in der Lage, nicht den Verstand zu verlieren, wenn es mal nicht gut läuft.“
Wobei auch City in dieser Saison bereits seine Resilienz bewiesen hat. Im Viertelfinale verteidigten sie gegen Atlético Madrid ihre knappe 1:0-Führung aus dem Hinspiel und brachten in Madrid ein 0:0 über die Zeit – trotz bebender Ränge im Stadion Wanda Metropolitano, teilweise enormen Drucks der Spanier und mehr als neun Minuten Nachspielzeit wegen einer turbulenten Rudelbildung kurz vor Ende der regulären Spielzeit.
Und zwischen Hin- und Rückspiel hinderte City den FC Liverpool durch ein 2:2 im Premier-League-Spitzenspiel auch noch daran, im Kampf um die Meisterschaft an ihnen vorbeizuziehen. Mit Stress kennen sie sich also aus.
Englische Presse skeptisch
Unter dem Strich bleibt es dabei: City hatte genug Möglichkeiten, um mit einem hohen Vorsprung in das Rückspiel am kommenden Mittwoch zu gehen. So aber wird es spannend werden – womöglich erwartet die Zuschauer ein weiterer Schlagabtausch mit Toren auf beiden Seiten.
In der englischen Presse überwiegt jedenfalls die Skepsis, dass ein Tor Vorsprung gegen Real Madrid zu wenig sein könnte. „Manchester City hat in einem der größten Champions-League-Spiele eine hervorragende Leistung gezeigt“, schrieb die BBC: „Aber sie müssen hoffen, dass sie nicht die Tür für Real Madrid offen gelassen haben.“ Und auch der „Guardian“ schrieb: „Es ist nie etwas Gutes, wenn man diesem Gegner erlaubt, an einem anderen Tag weiterzukämpfen.“