Spätestens in dem Moment, als sich Almuth Schult das Megafon schnappte, geriet der Abend vollends durcheinander. Die Torhüterin des VfL Wolfsburg war auf den Stadionzaun geklettert. Von dort heizte sie mit ihrem Liedgut schöne Feierlichkeiten an. Trotz des Umstandes, dass Schult und ihr Team gerade im Halbfinale der Champions League ausgeschieden waren, wurde ausgelassen gejubelt.
Das Kunststück, den Seriensieger FC Barcelona 2:0 besiegt zu haben, fühlte sich bestens an. 22.057 Zuschauer sahen im VfL-Stadion vorbildliche Werbung für den Frauenfußball. „Wir haben unser wahres Gesicht gezeigt“, sagte Schult. Dem bitteren 1:5 in Hinspiel war ein bemerkenswertes Aufbäumen gefolgt. Der FC Barcelona bestreitet am 21. Mai das Finale gegen Olympique Lyon. Die Wolfsburgerinnen sind voller Glück und Stolz in den Mai getanzt.

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Bei den Erklärungsversuchen kurz nach Spielende musste ganz schön gebrüllt werden. Die grün-weiße Party mit lauter Musik und viel Konfetti taugte als angemessene Belohnung für ein Erfolgserlebnis, das aufhorchen lässt. Nach 45 Pflichtspielsiegen in Serie war das erfolgsverwöhnte Team aus Barcelona erstmals wieder besiegt worden und grundlegend ins Wanken geraten. Dem Führungstreffer durch Tabea Waßmuth (47. Minute) und dem zweiten Tor von Jill Roord (59.) folgte in der Schlussphase ein kontrolliertes Anrennen des VfL Wolfsburg.
„Lass mal noch das 3:0 fallen“, sagte Waßmuth. Sie sprach bei ihren Interviews tapfer gegen die enorme Geräuschkulisse an. Sie hätte gerne miterlebt, was bei einer 3:0-Führung vielleicht möglich gewesen wäre. Schon vor Beginn der Nachspielzeit war VfL-Torfrau Schult als Verstärkung in den gegnerischen Strafraum aufgebrochen. Mit ein wenig mehr Mumm hätte sich das Debakel aus dem Hinspiel ausgleichen lassen. Aber es fehlte neben dem nötigen Glück an der allerletzten Konsequenz, um das große Wunder wirklich zu erzwingen.
Immer wieder ist von einer langen Reise die Rede. Von einer Entwicklung, die die Frauen des VfL Wolfsburg nehmen. „Es ist wichtig“, erklärte Cheftrainer Tommy Stroot, „auf unserem Weg Erlebnisse zu sammeln.“ Dazu gehört die Erkenntnis, dass sein Team im Hinspiel vor der einschüchternden Kulisse von fast 100 000 Zuschauern zu brav und passiv geblieben war. Am Samstagabend in Wolfsburg stimmte die Mischung aus kluger Teamstrategie und individueller Zweikampfhärte.
„Wir haben das Niveau in uns“
Im Wolfsburger Team hatte vor allem die Isländerin Sveindís Jane Jónsdóttir vorgemacht, wie es mit Hilfe eines enormen Laufpensums und hoher Einsatzbereitschaft gelingt, sich in eine Aufgabe zu verbeißen. Ihre Athletik, Zweikämpfe und weiten Einwürfe allein waren das Eintrittsgeld wert. „Wir haben mehr Bälle verloren als normalerweise“, gestand Barca-Trainer Jonatan Giráldez. Sein enorm kombinationsstarkes Ensemble durfte dieses Mal nicht nach Belieben passen und tricksen. Auch das gehörte zum optimierten Matchplan einer Wolfsburger Mannschaft, die sich jede Menge Applaus verdiente – sogar von jenen mitgereisten Zuschauern, die eigentlich den FC Barcelona anhimmeln.
Die aktuelle Saison des VfL Wolfsburg mit einem neuen Trainer und einer neuen Teamhierarchie war als Umbruch gedacht. Als Lernphase auf dem Weg zu Größerem. Im Wettstreit mit dem FC Barcelona sind dem VfL-Team noch Grenzen aufgezeigt worden. „Aber wir haben das Niveau auch in uns“, findet Mittelfeldspielerin Roord. Die Chancen stehen bestens, dem Ausscheiden in der Champions League in Kürze den nächsten Triumph im DFB-Pokal und die nächste Meisterschaft in der Bundesliga folgen zu lassen.
Damit war am Anfang der Saison unter der Regie von Stroot nur bedingt zu rechnen. Inzwischen spricht der erst 33 Jahre alte Trainer vom Beginn einer wahnsinnigen Reise. Sein Wunsch, sich im Duell mit Barcelona von einer Wolfsburger Rekordkulisse beleben zu lassen und diese durch gute Leistungen auch zu beleben, ist am Samstag erfüllt worden. Seine Gabe, aus taktischen Fehlern zu lernen, hat selbst der große FC Barcelona zu spüren bekommen.
Immer wieder gab es neidische Blicke. Natürlich schrieben die Spielerinnen des FC Barcelona später Autogramme, führten am Stadionzaun Gespräche und standen für Selfies zur Verfügung. Aber ihnen war nicht entgangen, dass sich der gerade aus dem Wettbewerb geworfene VfL Wolfsburg erhobenen Hauptes auf einer nicht enden wollenden Ehrenrunde befand. Mehr als 20.000 Zuschauer sind ein neuer Bestwert für die Frauen, die in jener Arena gejubelt hatten, die sonst den Auftritten der Bundesliga-Männer vorbehalten bleibt. „Das ist der Anfang“, glaubt Verteidigerin Felicitas Rauch, wenn sie die weiteren Schritte des VfL und des Frauenfußballs in Deutschland beschreibt.