Eine alte Fußball-Weisheit besagt: Das nächste Spiel ist immer das wichtigste. Aber vor dem Premier-League-Spiel gegen den FC Chelsea am vergangenen Sonntag dachte West-Ham-United-Trainer David Moyes ganz unverhohlen schon an die übernächste Partie: Das Hinspiel im Halbfinale der Europa League gegen Eintracht Frankfurt an diesem Donnerstag (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Europa League und bei RTL).
Moyes schonte gegen Chelsea einige seiner wichtigsten Spieler und erklärte seine Entscheidung mit dem bevorstehenden „großen Ereignis“ für den Klub aus dem Osten Londons, der zuletzt 1976 in einem europäischen Halbfinale stand – auch damals gegen Frankfurt. West Ham präsentierte sich trotz der Umstellungen gegen Chelsea robust, verlor durch ein spätes Gegentor allerdings 0:1.
Kaum ein Fan der „Hammers“ wird es Moyes ernsthaft übelgenommen haben. Denn nicht nur ist ungeahnter Europapokal-Ruhm in greifbarer Nähe, sondern die Europa League ist auch West Hams beste Chance, sich als Sieger für die nächste Saison in der finanziell ungleich lukrativeren Champions League zu qualifizieren. In der Liga stehen sie auf dem siebten Platz und werden es aller Voraussicht nach nicht mehr in die Champions-League-Ränge schaffen. Doch unabhängig vom Ausgang ist es mit dem Abenteuer Europa und einer respektablen Position in England jetzt schon eine gute Saison für einen Verein, der in den zurückliegenden Jahren durch den umstrittenen Umzug vom Upton Park ins London Stadium 2016 vor allem mit sich selbst beschäftigt war.
Dass es heute besser läuft, ist das Verdienst des Trainers. Moyes arbeitete zuerst von November 2017 bis Mai 2018 für West Ham und rettete den Klub vor dem Abstieg. Doch länger wollte die Klubführung nicht mit dem Schotten zusammenarbeiten. Ein klangvollerer Name sollte her, also kam Manuel Pellegrini, der zuvor mit Manchester City die Meisterschaft gewonnen hatte. Der erwünschte Erfolg blieb aus, und als West Ham im Dezember 2019 wieder einmal in Abstiegsgefahr schwebte, entließen sie Pellegrini und holten Moyes zurück.
Für den ist der Erfolg mit West Ham nun dementsprechend nicht nur berufliche Rehabilitierung, sondern auch eine persönliche Genugtuung. Als Trainer des FC Everton machte er sich in den frühen Jahren seiner Karriere zunächst einen guten Namen. Everton rückte unter seiner Führung Englands etablierten Spitzenklubs auf den Pelz, einmal führte Moyes den Klub sogar ins FA-Cup-Finale. Danach aber scheiterte er bei Manchester United, als er dort auf den sagenhaft erfolgreichen Sir Alex Ferguson folgte.
Nach weniger als einem Jahr beendete United die Zusammenarbeit wieder. Moyes, so schien es, war den höchsten Ansprüchen nicht gewachsen. Auch bei seinen nächsten Stationen bei Real Sociedad und dem AFC Sunderland konnte Moyes seinen Ruf nicht wiederherstellen. Das Spiel gegen die Eintracht ist dadurch auch für ihn von besonderer Bedeutung.
Wie die Arbeiter das Arbeiten lernten
Seine Mannschaft konzentriert sich auch in dieser Saison wieder auf die Grundlagen. Statt dem Gegner durch viel Ballbesitz im Stile der Topklubs das eigene Spiel aufzuzwingen, wartet sie ab und fährt nach Balleroberungen gefährliche Konter. Zusammen mit dem FC Arsenal hat West Ham in dieser Saison die meisten Tore nach Kontern erzielt. Auch durch Ecken und Freistöße kommen sie regelmäßig zu Toren – was aber nicht bedeutet, dass sie nicht auch aus dem Spiel heraus erfolgreich sein können.
Auf diese Weise haben sie sich in der Europa League für viele überraschend im Achtelfinale gegen den FC Sevilla und im Viertelfinale gegen Olympique Lyon durchgesetzt – beides namhafte Gegner. „Sie hauen sich rein. Sie machen sich keine Sorgen über das Fehlen von Tiefe. Sie hören nicht hin, wenn Außenstehende von Erschöpfung sprechen. Sie machen weiter und halten zusammen“, schrieb der „Guardian“ über die Gründe des Erfolgs: „Frühere Mannschaften waren nicht bereit zu malochen, aber Moyes hat die Identität des Klubs verändert.“ Er hat dem Arbeiterverein das Arbeiten wieder beigebracht.
Plötzlich erfolgreich: West Ham United hat sich von einem Abstiegskandidaten zu einem europäischen Erfolgsklub gemausert.
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Bild: AFP
Gegen Chelsea durfte sich der bullige Stürmer Michail Antonio trotzdem einmal ausruhen. Er dient oft als direkte Anspielstation nach Balleroberungen, um den Ball in der gegnerischen Hälfte festzumachen und aufrückende Mitspieler in Szene zu setzen. Rechtsaußen Jarrod Bowen ist mit 15 Toren und elf Vorlagen in allen Wettbewerben West Hams bester Angreifer, er kam am Wochenende nur zu einem kurzen Einsatz.
Ebenso wie der offenbar wechselwillige Declan Rice, der auf seiner Position im defensiven Mittelfeld den Takt vorgibt. Dagegen rieb sich Craig Dawson in der Abwehr auf, bis er kurz vor Schluss wegen einer Notbremse die rote Karte bekam. Er ist aktuell West Hams einziger einsatzbereiter Innenverteidiger, weshalb Moyes am Wochenende von seinem bevorzugten 4-2-3-1-System auf eine improvisierte Dreierkette in der Abwehr umstellte.
Lange Zeit fremdelten die Fans von West Ham United mit ihrem neuen Stadion, das trotz all der bunten Klubverzierungen anfangs den Charme einer Messehalle versprühte. Die Stimmung in der weitläufigen Arena war schlecht und bei Heimspielen gab es regelmäßig Prügeleien unter West-Ham-Fans, mit Ordnern oder Anhängern des Gastvereins.
Noch im Frühjahr 2018 versammelte sich nach einer Niederlage ein wütender Mob unterhalb der Loge der beiden Eigentümer David Sullivan und David Gold und skandierte „ihr habt unseren Klub zerstört“. Doch nach und nach haben sich die Fans an das Stadion gewöhnt, die Stimmung kehrte zurück – und nun steht ihr Klub vor seinem größten Fußballspiel seit Jahrzehnten. Noch vor Kurzem hätten das David Moyes nicht viele in England zugetraut.