Als Sieger konnten Hansi Flick und seine Nationalmannschaft die orange leuchtende Johan-Cruijff-Arena in Amsterdam am Dienstagabend zwar nicht verlassen, aber es würde zu diesem Bundestrainer passen, wenn ihm das in diesem Fall gar nicht so unrecht wäre. Beim 1:1 im Testspiel in den Niederlanden gab es keine Punkte zu verteilen, es ging um den Gewinn von Erkenntnissen.
„Ich freue mich, dass wir die Chance bekommen haben auszuprobieren“, sagte Flick, der diese Länderspielpause wie ein Ingenieur in einem Versuchslabor voller spannender Gerätschaften genutzt hatte. Er kann nach diesem ersten Spiel gegen einen hochklassigen Gegner als Chefcoach des Teams mit einem großen Paket frischer Erkenntnisse weiterarbeiten.
Allerdings war beiden Teams in vielen Momenten schon anzusehen, wie unfertig sie noch sind. Die Spieler arbeiteten, diskutierten, suchten nach Potentialen und Grenzen. Flick freute sich später über „ein sehr gutes Spiel von zwei Mannschaften, die Fußball spielen wollen“, und lobte vor allen Dingen die ersten 60 Minuten seines Teams. „Wir haben einen guten Charakter, sind selbstbewusst, wenn man einen Strich drunter zieht, sind wir auf einem guten Weg“, sagte Manuel Neuer. Aber hochklassigen Spektakelfußball haben acht Monate vor der WM weder die Deutschen noch die Holländer zu bieten.
Müller trifft kurz vor der Pause
Vor den Toren passierte lange Zeit nur wenig, es wurde besser verteidigt als angegriffen. Die deutsche Viererkette, deren linke Hälfte die international unerfahrenen Nico Schlotterbeck und David Raum bildeten, wirkte stabil, auch wenn Raum mit einem zu zaghaften Kopfballduell zum Ausgleich der Niederländer beitrug. Aber beide haben sich vorerst festgespielt in Flicks Planungen.
Rechts trat Thilo Kehrer weniger überzeugend auf, der verletzte Jonas Hofmann hat gute Chancen, nach seiner Genesung direkt in die erste Reihe zurückzukehren. Genau solche Eindrücke hatte der Bundestrainer sich erhofft. Und er weiß nun auch, dass vor allen Dingen die Offensive ein sensibles Arbeitsfeld bleibt.
Thomas Müller traf zwar kurz vor der Pause schön zum 1:0 (45. Minuten), aber vielen Aktionen rund um den Strafraum der Niederländer mangelte es an Leichtigkeit. Leroy Sané machte einige gute Dinge, spielte aber wieder einmal mit der Ausstrahlung eines Spielers, der sein enormes Potential nicht wirklich entfalten kann. Und Kai Havertz sowie Timo Werner ackerten, konnten sich aber kaum durchsetzen gegen die Dreierkette, die Louis van Gaal entgegen der niederländischen Tradition etabliert hat.
„Zur Einschätzung der eigenen Leistung war das Spiel ganz gut“, sagte Müller vor dem Hintergrund, dass die Mannschaft seit der EM nur gegen deutlich schwächere Gegner gespielt hatte. Nun habe er gemerkt, dass hier eine „gute Mannschaft mit guten Spielern“ entstehe, die „auch dominieren“ könne.
Die wohl interessantesten Erkenntnisse konnte Flick aus seinen Experimenten in der Mittelfeldzentrale gewinnen, wo Ilkay Gündogan gemeinsam mit Jamal Musiala spielte, dessen Auftritt den Trainer begeisterte. Der erst 19 Jahre alte Münchner war die bestimmende Figur auf dem Platz, immer wieder befreite er das Spiel der Mannschaft mit schlauen Bewegungen aus dem Pressing der Niederländer.
„Im Ballbesitz war schon vorher klar, dass er sich immer sehr gut durchzusetzen weiß“, sagte Flick, weniger bekannt war hingegen, wie stark dieser eher schmächtige Fußballspieler ist, wenn er das gegnerische Spiel stören soll. „Was er heute auch in der Defensive geleistet hat, das war schon herausragend“, sagte Flick, der mit der letzten halben Stunde der Partie nicht mehr zufrieden war.
Jamal Musiala (rechts) machte ein starkes Spiel und konnte teils nur durch Fouls gestoppt werden.
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Bild: AP
Auf eine Phase nach der Pause, in der die Deutschen sich vielleicht ein wenig zu sehr dem Gefühl der eigenen Stärke hingegeben hatten, folgte ein kleiner Einbruch. Steven Bergwijn traf zum 1:1 (68.), die 50.000 Zuschauer im Stadion wurden laut, und die DFB-Elf wankte. Aber wahrscheinlich freut Flick sich sogar, dass seine Versuchsanordnung auch noch zu dieser Sorte Stress geführt hatte, mit der Gewinnerteams bei großen Turnieren immer irgendwann umgehen müssen.
In diesen Minuten hätte Thilo Kehrer den Niederländern beinahe den Weg zum Sieg geebnet, als er Memphis Depay im Strafraum foulte. Doch der englische Schiedsrichter annullierte den zunächst verhängten Elfmeter nach Ansicht der TV-Bilder, weil Kehrer auch den Ball berührt hatte – eine zweifelhafte Entscheidung.
Vielleicht hatte der Unparteiische gespürt, dass dieses Unentschieden nicht nur zum Spiel, sondern auch in die Planungen beider Trainer passte. Niemand wird nach diesem Test zum Überschwang verleitet, zugleich können alle irgendwie zufrieden sein – vielleicht abgesehen von den deutschen Einwechselspielern.
Denn Leute wie Julian Draxler, Florian Neuhaus, Christian Günter und Julian Brandt konnten dieses Länderspielfenster während ihrer Minuten auf dem Platz nicht nutzen, um ihre Ansprüche auf einen Platz im WM-Kader zu untermauern. Von der Bank kamen weder gegen Israel noch in den Niederlanden belebende Impulse. Aber das wird sich ändern, wenn Kimmich, Hofmann, Goretzka, Reus, Adeyemi und vielleicht sogar irgendwann Florian Wirtz in die Mannschaft zurückkehren.