Der Fußball verleitet zur Mythenbildung und in Italien hat man eine besondere Schwäche dafür. Ein italienischer Mythos ist der Gewinn der Weltmeisterschaft 2006, der angeblich mit einer Rede des damaligen Nationaltrainers Marcello Lippi im Florentiner Trainingszentrum Coverciano in die Wege geleitet worden sein soll. Mit seinem legendären „discorso della quercia“, der Rede unter einer großen Eiche, indem er die Einheit der Mannschaft angesichts zahlreicher Widrigkeiten beschwor, soll damals alles begonnen haben.
Vor dem Spiel Italiens gegen Nordmazedonien an diesem Donnerstag (20.45 Uhr bei DAZN) in Palermo stellt sich die Frage, welches Narrativ später einmal über den gegenwärtigen Moment vorherrschend sein wird. Es geht um die Qualifikation zur im November beginnenden WM.
Im Play-off-Halbfinale gegen Nordmazedonien muss Italien gewinnen, um dann am Dienstag die Qualifikation klar zu machen. Dort wartet der Sieger aus dem Match zwischen Portugal und der Türkei. Jede Niederlage bedeutet das Ausscheiden, dem bejubelten Europameister stünde ein Spießrutenlauf bevor.
Der Coach bekniet seine Spieler
Die Vorbereitungszeit auf die entscheidenden Spiele war angesichts des laufenden Ligabetriebs knapp bemessen, für lange Ansprachen und intensive Trainingseinheiten war praktisch keine Zeit. Trainer Roberto Mancini hatte deshalb in den Wochen vor der Partie auf Sizilien die wichtigsten Spieler in der Mannschaft persönlich besucht und in Vier-Augen-Gesprächen zu motivieren versucht.
Die Geschichtsschreiber des Calcio könnten eines Tages von der „inno alla gioia“, von einer Ode an die Freude berichten. Mancini soll seinen Spielern ganz besonders Heiterkeit und Unbeschwertheit ans Herz gelegt haben. „Ich bitte euch“, soll der Coach seine Spieler bekniet haben, „bleibt positiv.“
Verflogener Zauber
Nun ist es mit der Freude so eine Sache. Sie ist entweder da oder halt nicht. Italiens Sieg bei der EM 2021 wird in der Legendenbildung gemeinhin auf ein besonders ausgelassenes Klima in der Mannschaft zurückgeführt, die als Außenseiter formidabel aufspielte und überraschend das Turnier für sich entschied.
Nach dem Sieg über England im EM-Finale brach Italiens Enthusiasmus dann allerdings überraschend schnell ein. Dem Triumph von Wembley folgten in der WM-Qualifikation erst in Kauf genommene, aber dann immer bitterere Unentschieden, erst gegen Bulgarien, zweimal gegen die Schweiz sowie zuletzt gegen Nordirland. Der Europameister verpasste die direkte Qualifikation. „Wir müssen den süßen Zauber des letzten Sommers wiederentdecken“, befand der Corriere della Sera.
In Mancinis Psychocoaching gibt es nur diese Option. „Ich empfehle, dass wir an die gewonnene Europameisterschaft denken“, predigt der Commissario tecnico. Seine Nation hat allerdings auch noch eine andere Erinnerung, nämlich an die verpasste Qualifikation des viermaligen Weltmeisters für die WM 2018. Neun Spieler der aktuellen Mannschaft waren 2017 im Giuseppe-Meazza-Stadion dabei, in jener dunklen Stunde im Play-off gegen Schweden.
Nun herrscht allgemein die Sorge, der verkümmerte Enthusiasmus der vergangenen Monate sowie das finstere Kapitel von damals könnten die Seelen der Spieler belasten. „Seit dem Titelgewinn 2006 hat Italien jede Syntonie mit der WM verloren“, stellte La Repubblica fest. 2010 und 2014 qualifizierte man sich zwar, schied aber bereits nach der Vorrunde aus. Die Nicht-Qualifikation für 2018, Italiens erste verpasste WM-Teilnahme seit 60 Jahren wurde sogar als „Apokalypse“ definiert. Was hätte eine abermalige Nicht-Qualifikation für eine Wirkung?
Nur eine Niederlage in drei Jahren
Solche Gedanken versucht Trainer Mancini auszublenden und hat damit offenbar auch Erfolg. „Wir können nicht zwei WM-Turniere hintereinander verpassen“, weiß Mittelfeld-Regisseur Marco Verratti von Paris Saint-Germain. „Im Vergleich zu damals haben wir eine besondere Spielweise und einen großartigen Trainer, der vor allem mit unseren Köpfen gearbeitet hat.“
Tatsächlich hat Italien in den vergangenen drei Jahren nur eine Niederlage erlitten, im Halbfinale der Nations League gegen Spanien. Und dennoch gibt es eine ganze Reihe von Indikatoren, die das Match gegen Nordmazedonien nicht wie einen sizilianischen Frühlings-Spaziergang aussehen lassen.
Von Form- und Psychotiefs
Mit Inter Mailand und Juventus Turin sind soeben die letzten beiden italienischen Klubs aus der Champions League ausgeschieden, im Achtelfinale. Auch Paris Saint-Germain schied aus, insbesondere weil Italien-Torwart Gianluigi Donnarumma gegen Real Madrid ein schwerer Patzer unterlief.
Im Psychotief befinden sich auch Lorenzo Insigne vom SSC Neapel, der nach der EM auf eine Welt-Karriere hoffte und im Sommer mit einem Millionenvertrag in die MLS zum FC Toronto nach Kanada wechseln wird. „Das ist, als ob er seine Fußballschuhe für immer an den Nagel hängt, an einen goldenen Nagel“, kommentierte der frühere Nationaltrainer Dino Zoff die Entscheidung.

Werktags um 6.30 Uhr
Neben den Langzeitverletzten Leonardo Spinazzola und Enrico Chiesa fehlen gegen Nordmazedonien vermutlich auch die angeschlagenen Abwehr-Routiniers Leonardo Bonucci sowie Kapitän Giorgio Chiellini, ausgerechnet jetzt. Neben dem 22 Jahre alten Alessandro Bastoni (Inter Mailand, sechs Länderspiele) könnte Gianluca Mancini (AS Rom) mit erst vier Länderspieleinsätzen in der Innenverteidigung zum Einsatz kommen.
Coach Mancini will Optimismus und Leichtigkeit, doch Italien macht sich auf alles gefasst. Die Gazzetta dello Sport betrieb dieser Tage schon einmal Schadensbegrenzung. „Egal, wie es ausgeht“, schrieb das Blatt, „es wird keine Apokalypse.“