Einem Gefühl des Überschwangs mochte Julian Brandt sich lieber nicht hingeben, nachdem er zum spielentscheidenden Akteur bei Borussia Dortmunds 2:0-Sieg in Stuttgart avanciert war. Die Schwere der unbefriedigenden Gesamtsituation beim BVB belastet die Gemüter auch weiterhin, und Brandt wird schon lange besonders kritisch betrachtet.
„Das war okay heute“, sagte der 25 Jahre alte Angreifer also eher nüchtern, nachdem er nicht nur beide Tore des Abends erzielt, sondern auch noch einen erstaunlichen Rekord aufgestellt hatte. Noch nie hat in der Bundesliga ein Einwechselspieler früher getroffen als Brandt in der zwölften Minute. Der gebürtige Bremer stand zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Rasen, weil der von immer neuen Verletzungen gebeutelte Giovanni Reyna bereits nach einer Minute unter Tränen mit einer neuen Muskelblessur vom Feld gehumpelt war.
Tolle Momente, viele Defizite
Das verschaffte Brandt eine neue Chance, gegen die Zweifel anzukämpfen, die seine Auftritte seit vielen Monaten begleiten. Der Nationalspieler, der 2019 für 20 Millionen mit dem klaren Plan von Bayer Leverkusen zum BVB wechselte, in die Phalanx der Weltklasse vorzustoßen, hat die Erwartungen bislang nie erfüllen können.
„Ich hatte letztes Jahr eine schwierige Saison, die ich möglichst schnell vergessen will – da helfen zwei Tore natürlich“, sagte er in Stuttgart. Leicht ist ihm aber auch sein erstes Jahr beim BVB nicht gefallen. Und in der laufenden Spielzeit verkörpert er den Charakter dieser Mannschaft wie kaum ein anderer: Fußballerisch tolle Momente ergeben zusammen mit haarsträubenden Fehlern im Spielaufbau und physischen Defiziten eine Mixtur, die niemanden richtig zufriedenstellt.
„Er powert sich immer aus“
Und so hielt Marco Rose in Stuttgart einen kleinen Vortrag, der die ganze Ambivalenz der Brandt-Jahre beim BVB deutlich machte: „Er ist ein hervorragender Fußballer, hat viel fürs Team gearbeitet, das, was ich grundsätzlich von Jule eigentlich kenne“, sagte der Trainer. Brandt leidet nicht unter dem Phlegma, das schon so viele Hochbegabte auf dem Weg in die Weltklasse gebremst hat.
„Jule ist da, Jule läuft an, Jule macht die Wege zurück, er powert sich immer aus“, sagte Rose, unter dem Brandt seine bisher stärkste Saison in Dortmund spielt. Sieben Tore hat er in der Bundesliga schon erzielt und sechs weitere aufgelegt, außerdem kommt er in jedem Spiel zum Einsatz, wenn er gesund ist. Aber es gebe eben auch „zwei, drei Dinge“, die Brandt fehlten, erklärte Rose: „Wir werden sicher kein Zweikampfmonster mehr aus ihm machen, aber ich verlange einfach, dass wir alle bereit sind, uns auch wehzutun in einem Pflichtspiel.“ An dieser Stelle hat Brandt Schwächen .
Rose herzt Brandt – benennt aber auch dessen Defizite.
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Bild: dpa
Im Vorfeld der Partie in Stuttgart hatte der Trainer erklärt, dass sein Team jene „Physis“ entwickeln müsse, mit der der FC Villarreal in der vergangenen Woche gegen Bayern München gewonnen hat, um die eigenen Ansprüche zu erfüllen. Die Entwicklungen des modernen Fußballs, der immer dynamischer, immer wuchtiger wird, sind für Typen wie Brandt ein Problem.
Denn er ist ein Spieler, der die Auftritte seiner Mannschaft eher mit dem Ideenreichtum eines Zockers statt mit großer körperlicher Intensität bereichern kann. Leider geht die Zockerei zu häufig schief; deshalb muss Brandt sich angesprochen fühlen, wenn Rose in Anspielung auf vermeidbare Ballverluste im Spielaufbau sagt: „Für die Ansprüche, die wir haben, machen wir zu viele leichte Fehler, die zu einfachen Toren für den Gegner führen.“
Deshalb muss der Hochbegabte, dessen Reifeprozess einfach keine Fahrt aufnehmen will, um seine Teilnahme an der WM in Qatar Ende des Jahres fürchten. Und deshalb gehört er beim BVB zum Kreis jener Spieler, denen im Zuge des angekündigten Umbruchs ein Vereinswechsel nahegelegt werden könnte.
Wie auch Emre Can, Nico Schulz, Dan-Axel Zagadou, Axel Witsel und einigen anderen. Das Zukunftsprojekt, das der neue Sportdirektor Sebastian Kehl gemeinsam mit Rose erdacht hat, ist nach allem, was bisher bekannt ist, auf andere Spielertypen zugeschnitten. Leute wie den geradlinigen Karim Adeyemi, der von RB Salzburg kommen soll, aber auch Leute wie Nico Schlotterbeck oder der Kölner Salih Özcan könnten der Mannschaft zu einer Körperlichkeit verhelfen, die derzeit etwas fehlt. Welcher Platz dann noch für Brandt bleiben wird, ist derzeit vollkommen ungewiss.