Ein bisschen ist die innere Uhr schon durcheinandergeraten. Normalerweise im März, sagte Thomas Müller, „da kribbelt’s so ein bisschen“, aber in diesem Jahr sei es eine „andere Situation“. Im WM-Fieber, so war das zu verstehen, ist Müller noch nicht, dafür ist das ungewohnte Winterturnier in Qatar zu weit weg: „Mit dem Kopf bin ich noch nicht im November.“
Stattdessen konnte man mit ihm am Mittwoch etwas anderes Spannendes erleben bei der Pressekonferenz der Nationalmannschaft in Neu-Isenburg: eine Zeitreise in ein dickes Kapitel deutsche WM-Geschichte. Und dabei ging es keineswegs um Nostalgie, sondern darum, was aus der Vergangenheit vielleicht für die Gegenwart zu lernen sei.
Mischung aus harten Realitäten
Einen besseren Kronzeugen als Thomas Müller kann es dafür gar nicht geben. Nicht nur, weil er mit seinen 32 Jahren, 110 Länderspielen und 42 Toren schon auf sein viertes WM-Turnier zugeht, sondern weil er sich wie kein anderer im Team auf die Spur dessen machen kann, was den Fußball im Kern ausmacht: diese Mischung aus knallharten Realitäten – Qualität, Physis, Form, Strategie – und der emotionalen, manchmal fast irrational anmutenden Seite, dieses ewige Dilemma, dass man trainieren, trainieren, trainieren, sich immer weiter optimieren kann, am Ende aber doch mit leeren Händen und leerem Blick dasteht, weil im entscheidenden Moment etwas anderes gefehlt hat. Selbstbewusstsein zum Beispiel, oder aber die Fähigkeit, auch mal lockerzulassen, die „Einfachheit des Fußballs nicht aus den Augen zu verlieren“.
Man braucht, sagte er, und das darf durchaus als Müller’sches Gesetz in die Lehrbücher kommender Generationen eingehen, immer einen „Schuss Lockerheit und Freiheit“.
Die Frage, welche Momente die aktuelle Mannschaft in ihrer Entwicklung brauche, um den WM-Titel anpeilen zu können, so wie das am Dienstag Kapitän Manuel Neuer noch einmal getan hatte, sei „relativ einfach zu beantworten“, sagte Müller. Sie müsse es schaffen, „die Momente, wenn es eng wird bei einem Turnier“, und die es ganz sicher geben werde, für sich entscheiden. Was es dafür braucht?
„Leidensfähigkeit“, die „Qualität, auf diesen Moment vorbereitet zu sein“, die „Coolness, sich von der Tragweite der Situation nicht so sehr berühren zu lassen“ – aber auch „das Quäntchen Glück, diesen Moment zu überstehen“. Auch wenn das gut klang: Bis ins letzte Detail konnte Müller damit auch nicht erklären, warum es 2014 mit den engen Momenten bestens geklappt hat, gegen Algerien, gegen Frankreich, aber auch im Finale gegen Argentinien, und 2018, dieser „kompletten Katastrophe für uns als Fußballnation“, ganz und gar nicht.
Neue Dynamik
Aber wenn man Müllers Bauch folgte, diesem nicht DIN-geeichten, aber trotzdem hochsensiblen Instrumentarium, dann gibt es für dieses Jahr durchaus Anlass, auf gewinnbringende Momente zu hoffen. „Aktuell fühlen wir uns sehr gut“, sagte er. Das Team habe „eine neue Dynamik“ und es sei dabei, seine Spielidee zu schärfen und zu stärken. „Wir wollen aktiv auf diesem Fußballplatz stehen und den WM-Titel dann auch ins Visier nehmen, ganz klar.“
Müller selbst ist einen weiten Weg gegangen seit seiner ersten WM vor zwölf Jahren. „2010 ging’s darum, dass man unfallfrei geradeaus laufen kann, dass man mitmachen kann, ohne dass man stört“, sagte er; Müller wurde mit sechs Treffern Torschützenkönig. 2014 habe er dann schon das Bayern-Selbstverständnis mitgebracht und versucht, „eine kleine Führungsrolle“ einzunehmen, den „Mitspielern etwas mitzugeben“. Das sei 2018 noch mal mehr im Vordergrund gestanden – allerdings ohne das erhoffte Ergebnis.
Jetzt, sagte er, sei es eigentlich ähnlich, verändert hätten sich andere Dinge: das Personal, der Fußball insgesamt, auch seine eigene Spielweise. Mit den schnellen, geradlinigen Spielern vorne, die das deutsche Spiel inzwischen prägen, komme er gut zurecht, sagte er. Dazu sei seine Rolle als Zentrumsspieler „deutlich gefestigter“.
Wenn man von weit oben auf den Kosmos Nationalelf schaut, ist man geneigt, Müller als das natürliche Gravitationszentrum dieses Teams zu erkennen. Vollkommen selbstverständlich ist das aus der Nähe betrachtet aber nicht, da muss auch der von Hansi Flick so geschätzte Müller seine Rolle behaupten – gegen die Konkurrenz, und ein bisschen auch gegen den natürlichen Feind jedes Fußballers: das Alter. Aktuell schneidet er dabei tadellos ab, wie lange das aber noch der Fall sein wird, fragt man sich offenbar auch beim FC Bayern.
Am Mittwoch sprach Müller auch darüber, über seinen Wunsch, den im Sommer 2023 auslaufenden Vertrag in München um zwei Jahre zu verlängern, und beim Nationalteam so lange dabei zu sein, wie er „in gewissen Situationen das Zünglein an der Waage sein kann“. Um für diese Momente in Qatar bereit zu sein, mit „100 oder sogar 101 Prozent“ hat ihn sein in Jahren geschulter Biorhythmus doch schon in den WM-Modus geführt.
Wie immer in Turnierjahren laufe die Vorbereitung mit „allen Gedanken darauf, wo man etwas optimieren kann“, von der Trainingsbelastung über Details von Ernährung bis hin zur Atmung, aber auch im Bewusstsein, dabei nicht zu überdrehen – die Müller-Art. „Alles offengelegt“, sagte er am Mittwoch, bevor er auf dem Podium für Matthias Ginter Platz machte. Bleibt nur noch die Frage, was er und die Deutschen daraus machen.