Wie jeder spanische Fußballer, der was auf sich hält, benutzt José Ángel Esmoris Tasende einen Künstlernamen. Angeliño klingt nicht nur schöner, sondern passt auch besser zu dem, was er auf dem Platz macht. Engelsgleich fliegt er im Trikot von RB Leipzig über die Außenbahn, und es gibt in der Stadt nicht wenige, die ihm übernatürliche fußballerische Kräfte zuschreiben. Nach dem ersten Halbfinale gegen die Glasgow Rangers fühlten sich all jene bestätigt, die in dem 25-Jährigen ein Geschöpf von Gottes Gnade sehen. Leipzig siegte durch ein spätes Tor verdient 1:0, erzielt durch, na klar, Angeliño.
Ein Kunstschuss himmlischer Prägung war das, der ihm da in der 85. Minute gelang. Die Schotten hatten einen Eckball per Kopf zu zentral aus dem Strafraum befördert. Angeliño versuchte es einfach, er schoss den Ball, während der sich noch in der Luft befand. Ein perfekter Treffer, ästhetisch den höchsten Ansprüchen genügend und darüber hinaus ungleich wichtiger. Der knappe Sieg verschafft Leipzig eine gute Ausgangsposition für das Rückspiel. „Das war eine starke Mannschaftsleistung, die wir mit nach Glasgow nehmen. In der Hoffnung, auch dort zu dominieren“, sagte Angeliño.
Dominiert hatten er und seine Mitspieler in der Tat. Zeitweise betrug der Ballbesitz über 70 Prozent. Nur dabei herumkommen wollte lange nichts. Ein-, zweimal bot sich Christopher Nkunku eine Gelegenheit. Bei der besten hatte er den Torwart schon umspielt, aber bei vollem Tempo verzog er. Und die Schotten? Versuchten in Leipzig irgendwie über die Zeit zu kommen mit körperbetontem Spiel. Der Plan ging so lange auf, bis Angeliño traf.
Auf dem Sprung ins Heimatland?
Der ist so was wie Leipzigs Spezialist für die besonderen Momente. Erst kürzlich erzielte er in der Bundesliga das so wichtige 1:1 gegen Freiburg. In letzter Minute sicherte er wenigstens noch den einen Punkt im Duell zweier Anwärter um die Champions League. Gegen Union Berlin traf er zwar nicht selbst, leitete das Siegtor von Emil Forsberg aber ein und sorgte dafür, dass es am 21. Mai zum abermaligen Aufeinandertreffen mit dem SC Freiburg kommt. Dann auf größerer Bühne, in Berlin beim Finale um den DFB-Pokal. Bis dahin möchte RB auch den Einzug ins Endspiel um die Europa League geschafft haben.
Was sind das für Wochen, welche die Leipziger gerade erleben? In der Bundesliga haben sie sich vom elften auf den dritten Platz vorgearbeitet, im DFB-Pokal das dritte Finale innerhalb von vier Jahren erreicht, und in der Europa League stehen die Chancen ebenfalls nicht schlecht, dass sie im Endspiel dabei sind. Das findet in Sevilla statt, in Angeliños Heimatland.
Dorthin könnte es ihn laut eigener Aussage bald ganz ziehen. Das Heimweh plagt den Mann, der aus Galicien stammt. Seine Frau und der dreijährige Sohn leben in Barcelona, für ihn eine schwierige Situation. Sein Vertrag mit RB läuft aber noch bis Sommer 2025, und der Klub ist nicht gewillt, ihn gehen zu lassen. Leipzigs jüngstes Hoch ist eng mit den Taten des Engelchens verknüpft, seit Angeliño wieder in Schwung ist, gilt das für das gesamte Team. So war es auch in der vorigen Saison, da traf Angeliño noch regelmäßiger.
In diese Spielzeit kam er dann wie seine Mitspieler nur schwer, was in seinem Fall auch mit einer Umstellung zu tun hatte. Unter Julian Nagelsmann gehörte ihm die linke Außenbahn. Hinter ihm verteidigte eine abgestimmte Dreierkette. Auf Nagelsmann folgte Jesse Marsch, der ein System mit Viererkette bevorzugte und Angeliño als reinen Außenverteidiger aufbot. Auf dieser Position kamen dessen Stärken aber nicht so zum Tragen, da war es nur logisch, dass der neue Trainer Domenico Tedesco wieder auf Dreierkette umstellte. Es gibt in Europa kaum einen Spieler, der so geschaffen ist für dieses System wie Angeliño. „Seine fußballerischen Fähigkeiten stehen außer Frage. Er spielt viele Flanken, viele tiefe Bälle. Er macht das einfach sehr, sehr gut“, sagt Tedesco.
Dabei kann der Umgang mit dem zum Überehrgeiz neigenden Angeliño auch schwierig sein, das Engelchen verfügt auch über diabolische Züge. Nagelsmann erfuhr das in der vergangenen Saison, als er den angeschlagenen Spanier auf Rat der Vereinsärzte schonte. Angeliño hatte dafür wenig Verständnis. Er saß schmollend auf der Tribüne und ließ die Welt über soziale Medien wissen, dass er in seinen Augen gar nicht verletzt sei. Es hat einen tieferen Sinn, wenn Tedesco sagt: „Ángel ist grundsätzlich jemand, der immer spielen will.“ Was die letzten Saisonspiele angeht, dürfte sich Angeliño kaum Sorgen machen müssen. Für Leipzig geht es um zu viel, als dass Tedesco auf ihn verzichten könnte. Dem himmlischen Frieden steht also nichts im Weg.