Fußball-Nationalmannschaft : Männer im Blaumann
- -Aktualisiert am
An der Spitze der Bewegung: Nationalspieler Leon Goretzka (links) und Thomas Müller Bild: Getty
Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan, Jamal Musiala: In der Zentrale der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist das Gedränge groß. Wer bringt den Tempofußball am besten auf den Platz?
Aus einiger Entfernung sah es aus wie eine merkwürdige Prozession: Männer in blauen Arbeitsanzügen, die mit Botschaften beschriftete Flaggen trugen, näherten sich einem Bürogebäude. Bei den Männern handelte es sich zweifelsfrei um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Aber ein Protestmarsch in der fränkischen Idylle?
Nein, in Herzogenaurach wurde am Dienstag nicht für Inflationsausgleich demonstriert oder gegen die zweite Trainingseinheit ohne vollen Freizeitausgleich – die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) bereitete sich darauf vor, am Sitz ihres Ausrüsters an einem Firmenlauf teilzunehmen: für einen guten Zweck, um das Bewusstsein für die Verschmutzung der Meere zu schärfen, und schon auch für gute Bilder. Im Zuge der 2,3 Kilometer langen Runde dann wollte eine Gruppe um Thomas Müller und Leon Goretzka vorzeitig zum Trainingsplatz abbiegen, ein Missverständnis, sie wurden ins Feld der Läuferinnen und Läufer zurückgeschickt.
In Herzogenaurach hat das Team von Bundestrainer Hansi Flick Quartier für die kommenden zehn Tage bezogen, als Basis für eine kleine Europareise mit vier Spielen in der Nations League – am Samstag gegen Italien in Bologna (jeweils um 20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Nations League und bei RTL), dann gegen England in München (7. Juni), gegen Ungarn in Budapest (11. Juni) und noch einmal gegen Italien in Mönchengladbach (14. Juni) –, aber auch, um die Basis zu legen für eine erfolgreiche Weltmeisterschaft im November und Dezember.
Es war zuletzt immer mal schon wieder forsch vom WM-Titel die Rede, aber als Goretzka am Dienstag nach der Vormittagseinheit auf dem Pressepodium Platz nahm, klang das ein bisschen anders, auch wenn Ziel und Anspruch vielleicht dieselben sind. „Aufgrund der vergangenen Jahre kann man nicht behaupten, dass wir in der Weltspitze sind“, sagte er. „Aber wir wollen dahin wieder zurück. Und ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.“
Wie weit, das soll und wird nach den Spielen gegen Italien und England besser zu erkennen sein, von einem „echten Gradmesser sprach Goretzka, und auch wenn er eine so lange und fordernde Länderspielperiode am Ende einer langen Saison „speziell“ nannte: Angesichts dieser Gegner sei er „voller Vorfreude“.
Nicht so gern dagegen schien Goretzka zurückschauen zu wollen. Auf den Vergleich zu vor einem Jahr, als die DFB-Auswahl zur Europameisterschaft ebenfalls in Herzogenaurach residierte, ließ sich der Münchner Mittelfeldspieler nicht ein. Aber wenn man sich an das letzte Turnier der Ära Joachim Löw erinnert, liegt ein wesentlicher Unterschied auf der Hand: Während das Team sich damals im Zuge von Löws späten Umbauarbeiten ein Stück weit selbst verloren hatte – Stichwort Dreierkette –, gibt es nun wieder ein klares (Selbst-) Bild, das die Fußballnation schon von Flicks vorheriger Station in München kennt. „Es ist absoluter Power- und Tempofußball, der uns und den Zuschauern viel Spaß macht“, sagte Goretzka. So weit, so bewährt.
Mehr Spannung liegt mit der näherrückenden WM in der Frage, wer konkret diesen Fußball dann, wenn es ernst wird, auf den Platz bringen soll. Es ist viel von Konkurrenzkampf die Rede in diesen Tagen, und in Goretzkas Revier, der Kraft- und Kommandozentrale des Spiels, wo schon auch mal der Blaumann ausgepackt werden muss, steht der Bundestrainer vor einer der wichtigsten Entscheidungen.
Neben dem bewährten Münchner Gespann mit Goretzka und Joshua Kimmich, das allerdings auf eine unbefriedigende Rückrunde zurückschaut, hat sich auch Ilkay Gündogan nachdrücklich um einen Platz beworben, und dann wäre da ja noch Jamal Musiala, der auf der Sechser-Position die Entdeckung des Länderspiel-Frühjahrs gewesen ist. Festlegen wollte Flick sich bislang nur darauf, dass er Kimmich angesichts des Gedränges in der Mitte nicht auf eine Außenposition abschieben werde – eine Entscheidung im Sinne Kimmichs, aber ob sie auch im Sinne des großen Ganzen ist, muss sich noch zeigen.
Ansonsten forcierte der Bundestrainer auch hier zuletzt noch einmal die Haltung, dass sich niemand seiner Sache (zu) sicher sein dürfe. „Ich würde mir als Trainer auch keine Handschellen anlegen“, sagte Goretzka dazu. Er jedenfalls sei nach der „schwierigen Situation“ der vergangenen Saison mit einer lange rätselhaften Knieverletzung nun „ohne Nachwehen“ bereit. Und aus der Vormittagseinheit berichtete der 27 Jahre alte Profi, wie es zwischen ihm und Kimmich bei einem Zweikampf „richtig rund“ gegangen sei. Goretzka hat’s gefallen: „Das sind die Dinge, die schweißen noch mal mehr zusammen“, sagte er. Ein belastbares Bündnis gerade dieser beiden wäre dem Bundestrainer – Konkurrenz hin oder her – gewiss sehr recht.
In einer anderen Sache hingegen versuchte Goretzka am Dienstag dann eher, den Fliehkräften entgegenzuwirken: Als er zu den Wechselabsichten seines Klubkollegen Robert Lewandowski und die offenkundigen Verwerfungen mit dem FC Bayern befragt wurde. „Ich wäre froh, wenn beide Seiten ein bisschen Emotionalität rausnehmen und versuchen, eine gute Lösung zu finden für alle Beteiligten“, sagte Goretzka mit Blick auf die „unglaubliche Erfolgsgeschichte“. Über die er allerdings, bei allem Bemühen um Versöhnliches, schon in der Vergangenheit sprach.