Neuer Anlauf in Liga zwei : Stolz statt Ärger bei Darmstadt 98
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Mund abwischen, weiter geht’s: die Devise von Darmstadt 98 Bild: Reuters
Trotz des verpassten Aufstiegs in die Bundesliga sind die Darmstädter stolz auf ihr Abschneiden als Außenseiter im Aufstiegskampf. In der neuen Zweitligasaison wollen die „Lilien“ wieder überraschen.
Emir Karic schwirrte der Kopf. Der Österreicher gehört zu jener Sorte Fußballspieler, die sich bis zum letzten Pfiff auf dem Platz verausgaben – da kann man schon mal den Überblick verlieren. Jedenfalls sangen die „Lilien“-Fans aus voller Kraft, die Atmosphäre im ausverkauften Stadion am Böllenfalltor war famos am Sonntagnachmittag. Das Publikum übertönte sogar den Stadionsprecher, der die Ergebnisse von den anderen Plätzen vortrug. Da wendete sich Karic an Torsten Lieberknecht. Erst als der ihm bestätigte: Ja, wir sind nicht aufgestiegen und nicht mal in der Relegation, sank der Österreicher matt und traurig auf den Rasen.
Lieberknecht musste es ja wissen, der Cheftrainer hatte in diesem dramatischen Zweitliga-Saisonfinale einiges richtig vorhergesagt. Zum Beispiel, dass der Hamburger SV unter die ersten drei kommen wird, als dieser von vielen längst abgeschrieben war. Oder dass der SVD sich nicht wird abschütteln lassen von der großkalibrigen Konkurrenz. Im Sommer 2021, bei seiner Vorstellung als neuer Cheftrainer, saß Lieberknecht erstmals auf dem Podium bei den „Lilien“. Dem Klub waren kurz davor ein paar seiner besten Spieler und der Cheftrainer (Markus Anfang) abgeworben worden. Da schien Lieberknechts Zielvorgabe, einen einstelligen Tabellenplatz erreichen zu wollen, ambitioniert.
Nur einen dieser einstelligen Plätze, schob Lieberknecht damals noch nach, wolle er vermeiden: den vierten, den so undankbaren Rang. Doch genau so kam es. Die „Lilien“ hatten abermals in einem Heimspiel ihr Publikum begeistert und den SC Paderborn 3:0 besiegt, doch die Konkurrenten Werder Bremen und Hamburger SV behielten im Fernduell ihrerseits die Nerven.
Bei Darmstadt flossen auch Tränen
So mancher hartgesottener Darmstädter Profi ließ, als der große Traum geplatzt war, den Tränen freien Lauf. „Das zeigt mir“, sagte Lieberknecht, „dass die Jungs mit Seele und tiefer Leidenschaft Fußball spielen. Dass sie leben für ihre Passion Fußball.“ Nebenan, im Treppenhaus des Funktionsgebäudes, braucht in diesen Tagen kein Künstler anzurücken. An den Wänden dort finden sich die Wegmarken und Meilensteine der Vereinsgeschichte verewigt. Doch die starke Saison 2021/22, in der die Südhessen 16 Spieltage auf einem der ersten drei Ränge platziert waren, hat am Ende keine frischen Meriten erbracht.
Die 60 Punkte, die der SVD erwirtschaftete, hätten in den vergangenen vier Jahren drei Mal zum direkten Aufstieg in die Bundesliga gereicht. Nun haben die Darmstädter eine Saison am oberen Rand ihrer Möglichkeiten gespielt, das Spielglück war grundsätzlich auf ihrer Seite, so mancher Sieg erst spät im Match erreicht.
Und doch liegen einige Begebenheiten vor Augen, wo die „Lilien“ den einen fehlenden Punkt jeweils verpasst haben: Da war der durch den ersten Corona-Ausbruch im Team bedingte Null-Punkte-Start (gegen die Durchschnittsteams Regensburg und Karlsruhe); da waren die vielen verlorenen Duelle gegen direkte Aufstiegskonkurrenten in der Rückrunde; da war die 0:5-Heimniederlage gegen den HSV, welche die Tordifferenz gegenüber dem Rivalen ruinierte, der letztlich nur aufgrund dieser besseren Tordifferenz den „Lilien“ den Relegationsplatz vor der Nase wegschnappte; und da war die bittere Niederlage in Düsseldorf in der Vorwoche, die das Team „angeknockt“ hatte, wie Lieberknecht sagte.
Der Präsident verharrte im Moment der ersten großen Enttäuschung, dem „Stich ins Fußballerherz“, wie Torhüter Marcel Schuhen sagte, nicht im Klein-Klein. Der SV 98 habe sich direkt hinter Schalke, Werder und dem HSV eingereiht – „sind das Zweitligavereine?“, fragte Rüdiger Fritsch rhetorisch. „Und zwar ohne dreistellige Millionenschulden und ohne Wechsel auf die Zukunft. Darauf können wir mächtig stolz sein.“
Und doch könnte eines Tages das schale Gefühl zurückbleiben, dass ein Verein mit den Möglichkeiten des Darmstadt 98 nur alle Jubeljahre einem Aufstiegs-Coup so nahe kommen könnte. Immerhin: Die Basis für weitere gute Jahre ist gelegt, aber ob es das Team wieder so weit nach vorne tragen kann, ist ungewiss. Bis auf Tim Skarke, der am Sonntag das frühe Führungstor erzielte, sind alle Stammkräfte über das Ende der kommenden Saison hinaus vertraglich gebunden.
Luca Pfeiffer, der gegen Paderborn seine Saisontore 16 und 17 erzielte, zu halten, könnte aber eine finanzielle Herkulesaufgabe werden. Die Leihvereinbarung mit dem dänischen Klub FC Midtjylland endet Mitte Juni. Trotzdem ist Sportdirektor Carsten Wehlmann in der kommoden Situation, für den Kader keine Grundsatzentscheidungen mehr treffen, sondern nur „feinjustieren“ zu müssen. „Wir haben immer auf Basis der zweiten Liga geplant“, sagte er. Und Lieberknecht sagte vor Urlaubsbeginn voraus: „Wir wollen im nächsten Jahr wieder unsere Nische finden – und wieder überraschen.“